Semipalatinsk-21, Moscow 400, Polygon
Alle drei Namen sind Teil der vielleicht dunkelsten Geschichte der Welt. Euch sagen sie nichts? Hiroshima oder Nagasaki aber natürlich schon! Was sie gemeinsam haben: Das atomare Wettrüsten der USA und UdSSR.
Kurchatov: Eine der geheimsten und abgeriegeltesten Städte der UdSSR
Die Stadt Kurchatov (oder Kurtschatow) war über vier Jahrzehnte lang auf keiner öffentlichen Karte verzeichnet. Sie war eine geheime bzw. geschlossene Stadt mit etlichen Kontrollpunkten im heutigen Nordosten von Kasachstan. Nur befugte Personen durften sie betreten. Sie trug auch die Namen Semipalatinsk-21 oder Moskau-400. Selbst die Einwohner der Stadt, hauptsächlich Atomwissenschaftler, wurden getäuscht. Ihnen wurde vorgegaukelt, dass sie sich irgendwo in der Nähe der Hauptstadt der Sowjetunion, Moskau, befinden. Tatsächlich lag ihre neue Heimat 3.400 Kilometer davon entfernt. Familie und Freunde der Wissenschaftler mussten oft monatelang auf eine Besuchserlaubnis warten. Auch das Verlassen der Stadt war nicht so einfach. Das Leben innerhalb der abgesperrten 16 Quadratkilometer war jedoch, wie in anderen geschlossenen Städten auch, angenehm und bot die besten Annehmlichkeiten. Zumindest wenn man nicht so genau auf das riesige KGB-Gebäude in der Stadt schaute. Und direkt daneben befand sich damals das einzige Hotel, wo die Wissenschaftler zunächst unterkamen (ein Schelm der Böses dabei denkt).
Die Stadt Kurchatov wurde 1947, zwei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und unmittelbar nach den Bombenangriffen auf Hiroshima und Nagasaki, gegründet und hatte von Anfang an ein klares Mandat. Es sollte das geheime Operationszentrum für das angrenzende Atomtestgelände Semipalatinsk werden, das im Volksmund Polygon genannt wird, ein russischer Begriff, der „spezialisiertes Gelände“ bedeutet.
In der Blütezeit der Stadt lebten hier 20.000 sowjetische Wissenschaftler, die Forschungen und Experimente zur Atomkraft und ihrer Nutzung durchführten. Benannt wurde sie nach Igor Wassilijewitsch Kurchatov (1903–1960), einem sowjetischen Atomphysiker.
Russische Spione hatten Josef Stalin bereits darüber informiert, dass die USA über Atomwaffen verfügte. Die Bombenangriffe auf Japan im Jahr 1945 bestätigten die Vermutungen. Entschlossen, sich von den USA nicht überwältigen zu lassen, befahl Stalin Kurchatov, bis 1948 eine Atombombe zu bauen. Das atomare Wettrüsten nach der Devise „Abschreckung durch Aufrüstung“ begann.
Am 29. August 1949, zündete die UdSSR ihre erste Atombombe auf dem Atomtestgelände Semipalatinsk in der Nähe von Kurchatov. Die RDS-1/First Lightning getaufte Bombe war eine Plutoniumimplosionsbombe, die Robert Oppenheimers Trinity-Bombe in den USA verblüffend ähnelte. Sowohl ihre chemische Zusammensetzung als auch ihr Design waren durch das Feedback russischer Spione in Amerika beeinflusst.
In den darauffolgenden vierzig Jahren explodierten 456 Atomsprengköpfe auf der 18.500 Quadratkilometer großen Steppe. Die Landschaft wurde mit radioaktiven Elementen überzogen und die Gesundheit der dort lebenden Menschen erheblich beeinträchtigt.
Polygon: Das Atomtestgelände
Sechzig Kilometer von Kurchatov entfernt liegt das eigentliche Atomtestgelände. Hier wurden die 456 Bomben gebaut, weiterentwickelt und gezündet. Die Tests umfassten auch ihre Auswirkungen auf Gebäude und Menschen. Daher waren früher seltsame Gebäude auf dem Gelände verteilt, die wie Treppenaufgänge, Luftschutzbunker oder Teile von Häusern wirkten. 340 der Tests verliefen unterirdisch und 116 atmosphärisch, d. h. sie wurden entweder aus Flugzeugen abgeworfen oder direkt am Boden gezündet.
Die Straße zum Standort war nicht immer so heruntergekommen. Einst war die gesamte Infrastruktur des Standorts erstklassig. Auch waren nicht alle Tests zerstörerisch und zielten auf die Vernichtung von Erde und Menschheit ab. Einige Atomtests dienten auch zivilen Zwecken.
Einer davon war der Chagan-Test am 15. Januar 1965, der die Bewässerung verbessern sollte. In Zentralasien war und ist immer noch die Bewässerung für die Landwirtschaft ein großes Problem. Zur Regenzeit besitzt man ausreichend Wasser, doch was ist im Sommer? Man überlegte, wie man die Wasserversorgung, zum Beispiel durch Schaffung künstlicher Seen verbessern konnte. Mithilfe einer 140-Kilotonnen-Bombe, die tief im Erdinneren platziert wurde wollte man ein großes Loch schaffen und in dieses Wasser vom Chagan-Fluss einleiten. Die Explosion war so gewaltig, dass sie die Erdoberfläche durchbrach und eine 38 Meter hohe Caldera um eine 400 Meter breite und 100 Meter tiefe Mulde bildete. Mithilfe des Wassers vom Fluss und Regenwasser entstand ein See, der heute Atomsee genannt wird.
Der Atomsee ist auch einer der Bereiche des Atomtestgeländes, in denen die Strahlenbelastung noch immer am höchsten ist. Angeblich kann man in dem Wasser sogar schwimmen oder fischen. Man sollte nur nicht den Boden und den Grund des Sees berühren, denn der ist hoch belastet, das Wasser selbst angeblich nicht.
Die Wanderung um den mondähnlichen Atomsee ist surreal mit strengen Anweisungen wie in der Geisterstadt von Tschernobyl, Prypjat. Ich durfte den Boden nicht berühren und beim Gehen keinen Staub aufwirbeln. Daher trug ich eine Schutzausrüstung. Die Stille, die Leere, die Einsamkeit und der tosende Wind: Da kommen einem zwangsläufig die Fragen, was wir Menschen nur mit der Natur machen. Übrigens wurde danach von der Schaffung künstlicher Seen auf diese Art abgesehen... zu teuer!
Weitere wichtige Standorte innerhalb des Polygons sind das Kommandozentrum, das mit den acht Testbezirken des Polygons verbunden war, die Mulde, in der die erste Interkontinentalrakete der UdSSR getestet wurde sowie Überreste von riesigen unterirdischen Laboren.
Das Testgelände:
Der Atomsee:
Luftwaffenstützpunkt und Geisterstadt Chagan
Irgendwo zwischen Kurchatov und der Stadt Semipalatinsk (heute: Semei) befinden sich die Überreste des Luftwaffenstützpunkts. Als aktiver Luftwaffenstützpunkt mit eigener Mission patrouillierte die Garnison an der chinesischen Grenze und dem äußersten Norden. Er wurde bewusst in der Nähe des Polygons errichtet, um die Widerstandsfähigkeit zu testen und im Bedarfsfall auf nukleare Vorräte zurückgreifen zu können. Von hier aus wurden die Bomben bei Bedarf zu ihren Zielen gebracht.
Der Luftwaffenstützpunkt verfügte über eine vier Kilometer lange Landebahn, die im Notfall auch als Notlandeplatz für ein sowjetisches Space Shuttle dienen konnte, unter Erdhügeln versteckte Luftschutzbunker und Treibstofflager. Vier Jahrzehnte lang war er für den Fall eines Dritten Weltkriegs rund um die Uhr in höchster Alarmbereitschaft.
In der Nähe des Luftwaffenstützpunktes befindet sich der Ort Chagan, mittlerweile eine verlassene Geisterstadt, in der sich heutzutage wieder eine einzige Familie niedergelassen hat und von Landwirtschaft lebt. Hier wohnten einst die Mitarbeiter der Garnison und deren Familien. Die Stadt besteht hauptsächlich aus tristen vier- bis fünfstöckigen Wohnblöcken typischer sowjetischer Architektur.
An der Zufahrtsstraße der ehemaligen Siedlung steht ein Gedenkstein, ein fast pyramidenförmiger Granitblock mit einer schwarzen Marmortafel. Darauf ist ein T-95-Langstreckenbomber im Flug abgebildet (einer der wichtigsten Flugzeugtypen, die früher hier stationiert waren).
Luftwaffenstützpunkt:
Geisterstadt Chagan:
Ein Diskurs: Das Ende der Atomwaffentests
Der Kalte Krieg, der von 1947 bis 1991 dauerte, war in vollem Gange.
Trotz der enormen Dominanz der USA bei der Gesamtzahl ihrer Atomwaffen hatte die UdSSR einen Weg gefunden, der Bedrohung zu begegnen. Sie begann, die Kapazität aller Sprengsätze zu erhöhen, was 1961 in der Zar-Bombe gipfelte, der stärksten jemals gebauten Atombombe der Welt. Sie war 3.800-mal so groß wie die Hiroshima-Bombe und wurde auf dem Testgelände Nowaja Semlja in der Barentssee im Arktischen Ozean getestet. Dank ihrer Führungsrolle in der Raumfahrtindustrie wäre die UdSSR 1963 auch in der Lage gewesen, Atombomben im Weltraum zu stationieren.
Diese beiden Entwicklungen veranlassten die USA zu Verhandlungen, obwohl sie im nuklearen Wettrüsten immer noch die Nase vorn hatten. Im August 1963 unterzeichneten die UdSSR, die USA und Großbritannien in Moskau einen Vertrag über das Verbot von Atomwaffentests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser. Darüber hinaus verpflichtete sich die UdSSR, auch keine Atomwaffen im Weltraum zu stationieren. Dennoch stoppte der Vertrag weder die Produktion noch die Tests von Atomwaffen. Er beschränkte sie lediglich auf den Untergrund weltweit, sodass die Erde fortan von unten beschossen wurde.
Bei den anschließenden Entwicklungen darf man den Supergau im Atomkraftwerk Tschernobyl 1986 nicht vergessen, der die Welt in Schock versetzte. Außerdem entstand in der Zeit die Protestbewegung "Nevada - Semipalatinsk". Schließlich wurden im amerikanischen Pendant zu Semipalatinsk über 1.000 Atombomben getestet.
1989 wurde der Betrieb des Polygons eingestellt. Am 29. August 1991 unterzeichnete Kasachstans erster Präsident Nursultan Nasarbajew das Dekret zur offiziellen Schließung des Geländes. Bis 1996 wurden die Stollen der Atomtests versiegelt. Am 29. Juli 2000 wurde mit 100 Tonnen TNT der letzte Tunnel auf dem Areal zum Einsturz gebracht und die frühere nukleare Nutzung des Gebietes endgültig beendet. Im Jahr 2012 war die Sicherung aller bekannter Überreste der Atomtests beendet.
Die Folgen heute
Jeder, der sich dieser unsichtbaren Gefahr einer Strahlung unkontrolliert aussetzt, riskiert ernsthafte Gesundheitsschäden. Selbst der „Vater der sowjetischen Atombombe“, Igor Kurchatov, starb an den Folgen der Strahlung. Die gesamte Region war aufgrund der groß angelegten Tests erheblich betroffen. Auch noch im Jahr 1997 wies die Hälfte aller in der Region geborenen Kinder Gesundheitsschäden auf, etliche davon sind körperlich, geistig oder mehrfach behindert. Selbst in der Stadt Semipalatinsk (heute: Semei) kommt es bis heute zu unzähligen Fehlgeburten. Die Bewohner der Region leiden an vielen Krankheiten, hauptsächlich an Krebs. Die aufwendigen und teuren wissenschaftlichen Nachweise, die in jedem Einzelfall vorgelegt werden müssen, können sich nur die wenigsten leisten. Deshalb werden viele Betroffene nicht als Opfer der Atomtests anerkannt.
Ein Spaziergang durch Kurchatov zeigt heute verlassene, dem Verfall preisgegebene und geplünderte Gebäude. Von einst stolzen Arbeiterpalästen, Kulturklubs und Verwaltungshäusern im Stil der stalinistischen Architektur der 1950er Jahre stehen nur noch die Seitenwände. Die sowjetischen Insignien Hammer und Sichel sind hier und da noch schemenhaft im Schatten oder als zerbröckeltes Wandrelief zu erkennen. In den wenigen noch intakten Wohnblocks vor Ort leben heute wieder rund 12.000 Menschen. Sie arbeiten in dem erst 2003 durch ein Dekret des Präsidenten gegründeten Kerntechnologiepark, ein brandneues Zentrum zur Erforschung der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Auf dem zentralen Platz befindet sich eine Statue, zu Ehren von Igor Kurchatov. Das Hotel Majak ist eines der wenigen noch intakten Gebäude aus der Vergangenheit und mein Übernachtungsort für eine Nacht. Das Hotel scheint in den 1970er Jahren stehen geblieben zu sein.
Derweil liegen Polygon und der Luftwaffenstützpunkt sowie die Stadt Chagan in Trümmern. Seit das Militär fast komplett aufgehört hat, das Gebiet zu kontrollieren, wird jedes Metall, wie z.B. Kupfer, "geklaut". Ich schreibe es in Anführungszeichen, da es verboten ist, aber stillschweigend gebilligt wird. Dazu werden auch die Treppenaufgänge der Mehrfamilienhäuser zerstört, eine Landebahn des Luftwaffenstützpunktes ist bereits aufgestemmt und zerbröselt, das zuvor von der Landschaft umschlossene Labor wurde ausgebuddelt, um an die wertvollen Metalle zu kommen. Auch das Kontrollzentrum, in dem sämtliche Daten der Tests ankamen und zusammenliefen, wurde fast vollständig auseinander genommen. In den ehemaligen Luftschutzbunkern suchen Pferde Schutz, durch die Geisterstadt laufen Rinder.
Nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1991 verwaltet das kasachische Institut für Atomenergie die Atomanlagen von Kurchatov. Die Forschung konzentriert sich derzeit darauf, die großen Brachflächen für Landwirtschaft und Bergbau nutzbar zu machen und die gefährlichsten Teile abzuriegeln. Eines dieser Projekte befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Atomsee, wo Bäume gepflanzt und die Strahlung regelmäßig kontrolliert wird. Die Hoffnung besteht weiterhin, das Gebiet für die Landwirtschaft freizugeben.
In der Stadt Semei, 140 Kilometer entfernt, fassen zwei Monumente die Geschichte der Region zusammen: Kasachstans höchste Statue von Wladimir Lenin und das Atompilz-Denkmal „Stärker als der Tod“, das eine Mutter zeigt, die sich über ihr Kind beugt, um es vor der atomaren Strahlung zu schützen.